Artikel im Alb-Boten: "Die stickige Angst in den vollgestopften Waggons"

In einem Theaterspiel haben die Zehntklässler der Gustav-Mesmer-Realschule gestern - am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz - an das Schicksal der Münsingerin Särle Levi erinnert.

 

Bild: Ralf Ott

Vor dem Haus "Im Glack 1" in Münsingen erinnert ein Stolperstein an die Arztwitwe Särle Levi. Ihr Mann, der Arzt Dr. Julius Levi, hatte sich 45 Jahre lang mit Hingabe um die Menschen auf der Alb gekümmert - und wurde dann als Jude verachtet. Sein Sohn Hans, ebenfalls Arzt, entschied sich zusammen mit seiner Frau Brigitte und den Kindern Ursula (knapp zwei Jahre alt) und Nicholas (drei Monate) in die USA auszuwandern. Zurück bleiben seine Eltern Julius und Särle.

Seit 1997 schon erinnern die Zehntklässler der Gustav-Mesmer-Realschule an den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Abwechselnd mit einem Theaterstück oder durch Berichte aus der damaligen Zeit, die sie in den Klassen vortragen, erklärt Klassenlehrerin Karen Marenke. In ihrem szenischen Theaterspiel - dessen Texte von Josefa Ollek, Laren Schuhmacher, Kathrin Gloker und Jana Schmid verfasst wurden - warfen gestern die Zehntklässler in ihren Szenen Schlaglichter auf das Schicksal von Särle Levi. Da war zunächst die Freude der Familie über die Hochzeit von Sohn Hans mit Brigitte im März 1932. Nur ihre Brüder waren dagegen, während sich die Eltern freuen, dass eine Ehe "über die Kulturen hinweg" möglich ist. Dann zeigen die Akteure die Abschiedsszene des jungen Paars von den Eltern, die es nachdrücklich ablehnen, auszuwandern. Als in der Reichskristallnacht die Fenster bei Särle eingeworfen werden, ist ihr Mann schon mehr als eineinhalb Jahre tot. Als "Frau Doktor" erhält die Witwe immer wieder Hilfe von Münsingern - die freilich bisweilen eine Gegenleistung erwarten. Einzig Marie Kraft hält zu ihr, versorgt sie weiterhin und muss doch auch auf sich selbst achten, nachdem sie von der Nazikreisleitung verwarnt worden ist. "Ich kann dich nicht mehr besuchen", sagt sie im Theaterspiel. Dann erhält Särle die Nachricht von ihrer "Umsiedlung". Nirgendwo ist vermerkt, wohin sie gebracht werden soll, klagt sie. In ihrer Verwirrung ruft sie Ernestine Marquard an, die Mutter ihrer Schwiegertochter Brigitte. Diese hilft ihr beim Packen. Särle ist verzweifelt: "Ich muss durch ganz Münsingen laufen und alle werden mich anschauen". Ernestine organisiert einen Lieferwagen, der Särle am nächsten Tag zum Münsinger Bahnhof bringt. SS-Leute teilen sie und weitere Juden den Zügen zu. Zum Abschluss wird - begleitet von David Danka am Klavier - der einzige Brief verlesen, in dem Särle Levi die furchtbaren Erlebnisse, "die stickige Angst in den vollgestopften Waggons" auf dem Transport nach Theresienstadt schildert. Dort wird sie am 10. Juni 1943 ermordet.

Quelle: Alb-Bote, Ralf Ott

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